Oderland. Verstummtes Land. Wolfsland.

Jetzt ist es genug. Zwei Wochen Lockdown nun schon wieder.

Zwei Wochen. Sie enden damit, dass ich – höchst untypisch – statt im Lokal dies hier zu Hause verfasse. Denn die bisherige Sperrstunde (23 Uhr) für diese Brutstätten von Bier und Bromille ist auf den ganzen Tag ausgeweitet worden. Nachdem man festgestellt hat, dass das Corona-Virus die Fähigkeit besitzt, sich auch vor 23 Uhr zu verbreiten.

Dies gilt zumindest für Berlin. Für andere Bundesländer empfehle ich, die Regelung und deren Änderungen tagesaktuell, besser stündlich abzufragen.

Und die zwei Wochen enden auch mit der Suche nach den Trekkingstiefeln, die mich einst in Thüringen so quälten. Ich will nämlich wieder raus. Natur schnuppern, Abwehrkräfte sammeln.

Ach, DA sind sie! Stehen im Auto, auf dem Boden vor der Rückbank. Schon seit Wochen, seit der Rückkehr aus der „verschwundenen Stadt“ Küstrin. Ein geplanter Trip ins schlesische Gebirge wurde es aus Zeitmangel dann doch nicht.

Allerdings konnte ich auf der Vorbeifahrt in der Ferne die legendären Seelower Höhen sehen. Und genau dort, in Seelow, soll meine, aus pandemischen Gründen, sehr abgespeckte „Gebirgstour“ beginnen. Am liebsten quer über den Höhenzug bis nach Lebus, zur Oder herunter. Obwohl ich eigentlich weiß, wie dieser Fluss aussieht. Aber schaun mer mal.

Übernachtung geht natürlich gar nicht, nur für Geschäftsreisende. Und in dem gottverlassenen Winkel zwischen Seelow und Lebus gibt es vermutlich mehr Wölfe als irgendwelche Geschäftsaktivität. Entsprechend früh starte ich, Bundessstraße 1, immer ostwärts.

In Diedersdorf begegnet mir ein Schild, das mich – schon auf Polnisch – in Märkisch-Oderland willkommen heißt. Schnell ein Nah-Foto von „meinem“ Gebiet schießen, kann nie was schaden, wenn’s Internet in Wolfsland nicht mehr will.

Seelow. Ich parke auf der menschenleeren Gedenkstätte. Welchem Ereignis hier gedacht wird, führt jetzt zu weit, nachzulesen hier.

Ein Sowjetpanzer T 34 steht hier herum, einer der meistgebauten des Zweiten Weltkrieges, daher steht auch im Hof des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst einer. Wer weiß, wo noch überall.

Aber darum geht’s heute nicht. Ich will mich stählen (nein, nicht kriegerisch), den Kampf mit der Natur aufnehmen, möglicherweise durch die Wildnis bis Lebus wandern. Hoffentlich kommt kein Wolf.

Hinter der Gedenkstätte beginnt das große Nichts. Eindrucksvoll veranschaulicht durch das Schild am Ortsausgang.

Also Seelow ist zu Ende, schon klar. Und was folgt dann? Womöglich das Ende der Welt

Wie es so meine Art ist, verlasse ich bald das Sträßchen und schlage mich auf Waldpfaden auf die Höhen der Oderhänge hinauf. Und natürlich endet der Weg, wo ich aber weitermuss, und zwar links durchs Totholz, auf morschen Stämmen über sumpfige Gräben und bemerkenswert steile Abhänge hinauf.
Also eigentlich alles wie auf großen Touren, z.B. einer Alpenüberquerung. Mit dem Unterschied, dass es dort Menschen und Steinböcke gibt. Und hier nur Wölfe.

Immerhin entdecke ich einen Birnbaum mit einer Menge abgestürztem Obst. Reif und lecker. Ich stecke mir mal zwei ein. Sie werden tatsächlich mangels allem anderen das Mittagessen sein.

Ein Stück die Schienen entlang, Tarzans Spezialdisziplin. Auftritt Dolgelin. Am Bahnhof hält seit 1994 kein Zug mehr, und auch sonst ist Dolgelin, man möge mir verzeihen, keinerlei Erwähnung wert. Wolfsland.

Das Bahnhöfchen Dolgelin hat ein schönes neues Dach. Wem das nutzen soll, bleibt rätselhaft

Für den Adonisröschenweg, der nicht weit weg in die Höhe führt, bin ich etwas zu spät, die Blüten sind hier im Frühjahr zu bewundern. Weit oben auf dem Gipfel des Saumbergs erkenne ich eine alpine Schutzhütte. Tatsächlich, alles wie auf einer großen Alpentour, z.B. in der Schweiz.

Okay, es ist eine Kuppe, und ich bin nach weniger als zehn Minuten oben.

Welch magischer Ort. Weit geht der Blick ins Land, sogar ins nächste Land. Eine kleine Info-Tafel erzählt mir, dass man bei gutem Wetter die Türme der Papierfabrik Küstrin sehen könne.

Papierfabrik Küstrin? Ja, irgendwas ist da, fern am Horizont, so ca. 18,06 km entfernt (luftlinie.org). Deutlich nah dagegen der Stein
für das Gedenken an schlimme Tage im April 1945

In der Hütte eine einsame Flasche „Sternburg“-Pils. Spuren von Feten, was in Berlin automatisch Verwüstung und Corona-Lockdown bedeutet, sind hier nicht zu sehen. Und es wirft die Frage auf, wer hier oben ganz allein eine Flasche „Sternburg“ trinkt.
Andererseits werden sich vielleicht einst Leute fragen, wer hier oben zwei Birnen gegessen hat. Bis sich allerdings jemand hierhin verirrt, dürften deren Überreste den Weg alles Irdischen gegangen sein.

Es ist spät geworden, Lebus erreiche ich heute nicht mehr. Aber wenn ich mich jetzt – natürlich quer durchs Gelände – genau südwärts halte, erreiche ich die Ortschaft Libbenichen. Allein schon wegen dieses Namens scheint mir ein Besuch dort angebracht.

Problemlos komme ich durchs hügelige Gebiet in die richtige Richtung. Unterwegs kreuze ich ganz unvermutet die frühere Trasse der „Oderbruchbahn“. Auch die ging bereits den Weg alles Irdischen. Nur noch Gras und Totholz. Totes Land. Verstummt. Wolfsland.

Noch einmal erreiche ich das Gleis Eberswalde–Frankfurt, am Bahnübergang zeigt das Licht Dauer-Rot. Den Kombi mit Anhänger, der ihn zweimal überquert, schert es nicht. Berliner Sitten hier. Aber vielleicht weiß der Fahrer auch, dass weiter nördlich das Gleis erneuert wird, zum Teil fehlt.

Libbenichen also. Hier ist ganz schön was los. Es gibt eine Kirche, einen Dorfteich, ich sehe zwei Fußgänger, und gelegentlich fahren Busse nach Seelow. Der nächste aber nur an Schultagen. Ist heute Schultag? Freitag. Eigentlich ja. Eigentlich. Ich wandere weiter.

Jetzt im „Lindenhof“ ein schönes kaltes Bier trinken? Das „Hasseröder“-Schild hängt noch da. Ist aber nur ein frommer Wunsch in diesen pandemischen Zeiten. Die der „Lindenhof“ nicht überlebt hat. Beim Näherkommen sehe ich das Schild „ZU VERKAUFEN“.

Große Buchstaben. Eine große Telefonnummer. Die niemand sieht. Die wenigen Autos auf der B 167 jagen kaum gebremst vorbei. Man will nach Frankfurt oder auch Eberswalde.

Die Sonne sinkt. Es wird Zeit für den Rückweg.

Im Dunkeln bin ich in Berlin zurück. Es war ein langer Marsch da draußen, ich habe Sonne und Sauerstoff getankt, war nicht unter Menschen, wie es aktuell verlangt wird. Allenfalls unter Wölfen, auch wenn ich keine sah. Bestimmt sahen sie mich.

Egal. Sich im Nachhinein zu fürchten, bringt wenig. Furchtlos und fit erwarte ich die nächsten zwei Wochen des schrecklichen Lockdowns. Dass er dann beendet wird, liegt an uns, an jedem Einzelnen. Bitte seid artig.

Denn wenn es so weitergeht, wird auch Berlin Wolfsland.