Über den Grünten

Nein, hier wird nix über diesen Berg erzählt. Es gibt dort auch nix Besonderes zu ergrünten, es ist bloß ein Berg.

Aber ich will doch mal rauf, wenn er schon so da steht. Und vielleicht sogar drüber hinweg, Alpinisten nennen das eine „Überschreitung“. Wobei „schreiten“ in hochalpinem Gelände ein eher unpasssender Ausdruck ist.

Soo spektakulär ist das Ganze dann auch gar nicht, vielleicht sollten hier eher Bilder sprechen als ich.

Nach diversen Umwegen (eine Holztreppe im Wald führt 100 Höhenmeter hinauf, dann geht die Forststraße wieder 90 Höhenmeter abwärts, krass) stehe ich endlich am Fuß der Stuhlwand.

Der Steig daneben heißt meines Wissens aber nicht Stuhlgang, nennen wir ihn Wustbachsteig. Von den örtlichen Gegebenheiten her erscheint das passend.

Mühsamer Aufstieg, mit dem „bedächtigen Schritt der Bergler“. Das Grünten-Haus liegt noch 200 Meter unter dem Gipfel sowie im Nebel. Aber es wird immer besser, das Wagnis, bei bedecktem Himmel loszulaufen, hat sich gelohnt.

Am markanten rot-weißen Sendemast, immer noch nicht der Gipfel, führt eine Materialseilbahn in die gähnende Tiefe. Unter einem großen Logo des Bayerischen Rundfunks wird verkündet, dass sie nicht öffentlich ist. Für eine defekte Diode oder ein Relais gibt es also eine private Seilbahn. Recht luxuriös, das. Ich bin den ganzen Weg zu Fuß hier hinaufgekommen. Wenn auch ohne Diode.

„Gipfelüberschreitung“. Vorsichtiges Hangeln an Stahlketten abwärts, zwischen den Wolken ist gelegentlich Rettenberg zu sehen.

Ich sollte ja noch den Kühen Grüße von Frau S. bestellen. Da liegen einige herum. Aber die Kommunikation ist sehr einseitig. Sie liegen rum, starren ins Leere und reagieren auf nichts. Also eigentlich alles wie in Berlin am Kottbusser Tor. Nur dass es halt Kühe sind.

Dann eben nicht. Ein dramatischer Abstieg zur Rossberg-Alpe. Über eine Stunde verbringe ich hier, 1372 Meter hoch, blinzele in die Sonne und lausche der Wirtin, die über freie Marktwirtschaft doziert:

„Ich habe nicht vor, die Leute abzuzocken. Wenn ich 3,50 Euro nehme, wie die Lokale unten, trinken sie ein Bier und sind weg. Nehme ich 2,80 Euro, trinken sie zwei. Und kommen wieder, werden Stammgäste. Weil sie wissen, hier gibt’s keine Abzocke.“

Das klingt überaus sympathisch. Da könnten sich wirklich einige unten ein Beispiel nehmen. Leider sitzt die Rossberg-Alpe so hoch oben. Und ich muss so tief nach unten.

Der Weg zieht sich, und steil ist er auch noch.

Ich habe nicht vor, zu meinem langweiligen Ausgangspunkt am Fuß der Stuhlwand zurückzukehren. Ich nehme einen anderen Weg. Noch tiefer abwärts, durch die berühmte Starzlachklamm. Ein fieses Schild vor dem Steilabstieg: Aufgrund der Corona-Pandemie darf die Klamm nicht talwärts begangen werden. Ist wohl etwas eng dort.

„Talwärts“. Daheim in Berlin wüssten die Leute gar nicht, was dieses Wort überhaupt bedeutet. Das liegt natürlich an der flachen Topographie dort. Und an nichts anderem sonst. Was dachtet ihr denn?

Hier aber halten sich die Leute vorbildlich daran. Außer mir natürlich. Ich will nach Hause. Ich tauche ab in einen finsteren Stollen, taste schon nach der Lampe, da geht’s schon wieder raus. Auf engem Steg hoch über den tobenden, wütenden, spritzenden Wassern der Starzlach. Talwärts.

Je besser es voran, also talwärts, geht, desto nervöser werde ich. Was, wenn dort unten ein massiver, unüberwindlicher, elektrisch geladener Drahtzaun wartet? Oder der Kassenwart, hier „Klammwirt“ genannt, mich zurückschickt? Weil mein Abstieg verboten war?

Alles wieder hinaufklettern? Mehrere Kilometer Umweg bis zur rettenden Brücke über die Starzlach? Himmel, hilf!

Andererseits: Es ist ja schon geschehen. Mein Rückweg könnte es nicht ungeschehen machen. Dieses verbotswidrige Talwärts-Schreiten in der Klamm. In der mir übrigens niemand mehr zu dieser Uhrzeit begegnet ist.

Da ist das Kassenhaus. Stahlzaun, Drehkreuz, Gitter. Der „Klammwirt“ schielt zu mir hinauf. Ich stammele etwas vom Grünten, Fußweh, muss nach Sonthofen, bla.

„Ja, macht doch nix. Ham Sie a Maske? Dann schieben’s Gitter auf und gebn’s ma 3,50 Euro.“

So komme ich doch noch heim. Kaputt, hungrig, heute darf es sehr scharf sein.

Seit Tagen nämlich preist der Wirt vom Café gegenüber „seinen“ indischen Koch an. Dessen Lokal in der nahen Schloßstraße ist abgebrannt, er darf jetzt hier als „Untermieter“ die Küche stemmen. Die beiden arbeiten auf getrennte Rechnung, jeder für sich bzw. seine Firma. Das ist wahre Nachbarschaftshilfe in der Not.

Also will ich dem Inder auch mal helfen, viel weiter mag ich eh nicht mehr laufen. Nehmen wir die 53, „sehr scharf“.

Gleich mal vorweg: Es ist wirklich vorzüglich. Und scharf. Das Bier des „eigentlichen“ Wirts hilft da gut. So was nennt man wohl „Symbiose“.

Unschön ist, dass Fleisch, Kartoffeln und Reis auf Papptellern kommen. Offenbar ist das ganze indische Geschirr auch verbrannt. Na gut, es sind halt schwere Zeiten. Fehlt nur noch das Besteck.

Besteck? Der indische Herr versteht nichts, kein Wort.

Gabel. Fork? Knife?

Er glotzt wie die Kühe oben am Berg. Er kann sich absolut nicht vorstellen, was außer den Tellern noch fehlen könnte, der Café-Chef hilft. Nach mehreren Minuten ist irgendwo eine Gabel gefunden, die auch gleich noch einmal penibel abgewaschen wird.

Das beweist mir, dass der indische Herr sehr, sehr lange nichts mehr vor Ort serviert hat. Die Folgen der Pandemie, da habenˋs wir wieder. Na ja, Google nennt sein Lokal, wenn auch noch am alten Platz, „Liefern lassen“.

Doch, es war vorzüglich. Auch der Reis. Trotzdem: Morgen gehe ich zum Griechen.