Der Kluge reist im Zuge

Es ist Sonntagabend, als ich nach getanem Tagwerk die Zeitung studiere.

Eine großformatige Anzeige fällt mir auf:

Das klingt erst mal verlockend. Das, und die Tatsache, dass ich noch kein Ziel für den Oktober-Urlaub habe, lässt mich das näher studieren.

Ich höre die (noch) Fleißigeren unter den Lesern schon stöhnen: „Hat Tarzan nur noch Urlaub?“ Zu Recht, aber man bedenke: Der letzte, der mich in die Alpen führte, ist schon bald zwei Monate her! Und unter Klima-Gesichtspunkten überlege ich mir Folgendes: Eine Reise, die nur zu einem einzigen Ziel führt, das vielleicht sogar noch in einer Sackgasse liegt, es also nicht mehr weitergeht, muss man doch nicht mit dem Auto unternehmen.

Eine solche Sackgasse könnte Berchtesgaden sein. Weit genug weg ist es, damit sich das Zugticket auch richtig lohnt. Denn nach Strausberg oder Oranienburg (ohne den beiden jetzt zu nahe treten zu wollen) kann ich auch mit der S-Bahn.

Berchtesgaden. Der Königssee. Zuletzt war ich dort im Schnee. Mit einem Lidl-Ticket, wenn ich mich recht erinnere. Aber das ist etwas her, es ging noch nicht so hoch digitalisiert vonstatten, wie das jetzt mit dem Aldi-Ticket sein soll. Und älter, weiser und misstrauischer bin ich auch noch geworden.

Da ich am Montag sowieso zu spät aufstehe, die Nacht-Camper vor der Aldi-Filiale sicher alles aufgekauft haben, sammle ich ein paar Infos. Einige Verbraucherportale warnen vor drei „Fallstricken“.

Ad 1: Das Ticket gilt nicht am Freitag. Na und? Dann fahre ich eben nicht am Freitag.

Ad 2: Es gilt Zugbindung, den einmal gewählten Zug muss man dann auch nehmen. Na und? Das hab ich auch schon bei Flugzeugen geschafft. Und die sind sogar pünktlicher.

Ad 3: Nicht alle Züge sind nutzbar, welche, ist vorher nicht bekannt. Na und? Das ist … äh … bitte?

Da ist sie, die Falle. Die Seite bahndampf.de spricht gar von der „Katze im Sack“, die man kauft. Ich möchte das Angebot hier keinesfalls schlechtreden, da es noch bis zum 25.9. erstanden werden kann. Schließlich will ich nicht wegen übler Nachrede im Gefängnis landen. Das könnte ja schneller gehen, als in Berlin Zebrastreifen vor Kitas gemalt werden.

Nein, für einige mag der dritte „Fallstrick“ überhaupt kein Problem darstellen. „Oh ja, da fahr ich mal nach Hannover. Geht nicht? Dann nehme ich Würzburg. Geht am 10. nicht? Dann nehme ich den 11.“

Für solch Abenteuer ist mir der nächste Urlaub zu kurz. Was, wenn ich einen Wunsch-Zug kriege, aber kein Hotel am Ziel mich haben will? Oder das Hotel geht klar, aber mein Wunsch-Zug ist für das Aldi-Ticket nicht erlaubt? Alternative dann 14 Stunden Fahrt mit nächtlichem langen Aufenthalt in Nürnberg, und das ohne Bier? Ich spreche da aus Erfahrung. Werde ich alt? Nein, natürlich nicht. Nur so viel: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß.“ Film-Zitat.

Die Seite bahndampf.de verweist listig und Aldi-schädlich auf die Sparpreise der Bahn, die mit Glück sogar noch billiger als das beworbene Ticket sind. Schaun mer mal.

Und wern mer fündig. Hin- und Rückfahrt stehen jetzt perfekt, etwas teurer als bei einem bekannten Discounter, den ich hier niemals nennen werde. Aber dafür darf ich die Züge nehmen. Ganz bestimmt. So sie denn fahren. Aber das wäre etwas, wofür Aldi dann nichts kann. Und die Bahn sowieso nicht. Es wären dann „unvorhergesehene Störungen im Betriebsablauf“.

Eine solche finde ich in der Streckenbeschreibung. Umsteigen in München auf einen Regio, klar. Umsteigen in Freilassing auf den … Nanu?
„SEV“ steht da. Also nicht „SUV“, diese stadtbekannten Schlachtschiffe aus den engen Berliner Wohnstraßen wären tatsächlich dort oben im Hochwald bestens aufgehoben. Nein, es ist „SEV“. Schienenersatzverkehr.

Am Färberwinkl, kurz vor Berchtesgaden, wurde ein Fahrleitungsmast unterspült (Foto: Patrick Vietze)

Ach, richtig. Das üble Hochwasser im März. Total vergessen nach dem noch schlimmeren Drama vom Juli an der Ahr.

Ja, die Klima-Kapriolen. Wir sollten alle etwas achtsamer sein (Stichwort „Per SUV zur Kita“, ja, hallo?). Meine umweltfreundlich elektrische Bahnfahrt wird also in Freilassing enden. Mit dem „SEV“, womöglich einem Diesel-Bus, geht es dann am ramponierten Bahngleis entlang zum Ziel. Frei nach Heinz Rudolf Kunze: „Ich hab’s versucht … Nicht immer hat’s gereicht“.

Total elektrisch dagegen geht es dann am 9. Oktober bei Tesla zu. Tesla. Schon gehört?

Ich zumindest hörte gerüchteweise von einer Art „Oktoberfest“, also einem „Tag der offenen Tür“ dort im Giga-Werk in Grünheide bei Berlin. Und das, wo noch nicht mal sämtliche Baugenehmigungen in trockenen Tüchern sind. Aber „Cheffe“ Elon Musk ist eben ein ganz Flinker.

Gut, dass ich meine Fahrradtour dorthin nicht einfach „ins Blaue hinein“ plante. Wäre sowieso seltsam gewesen, wenn das Ziel Grünheide heißt.

Alles geht Corona-konform mit Anmeldung auf einer Website, die dann Folgendes antwortet:

Okay, dann bin ich samt Begleiterin schon mal in der Warteliste. Nur ca. 3500 Leute dürfen auf das riesige Gelände. Corona halt. Eine begreifliche Schutzmaßnahme, die vor einigen Kiosken in Berlin-Mitte auch gern mal durchgesetzt werden könnte.

Viele Menschen aus vielen Ländern wollen an jenem 9. Oktober anreisen. „Priorisiert“ bei der Ticket-Zuteilung werden jedoch Bewohner aus Berlin und Brandenburg. „Priorisiert“. Das Wort (es könnte auch „bevorzugt“ heißen) ist noch nicht lange im allgemeinen Sprachgebrauch. Wir kennen es vom Thema Corona-Impfung.

Sicher gibt dieses Wort den sogenannten Quer- bzw. Quäldenkern Auftrieb für neue wüste Theorien. Ich höre sie schon in den sozialen Netzwerken schwadronieren: „Tesla plant Massenmord“, „Elon Musk selektiert Menschen“.

Ihr Armen. Wenn ich und meine Begleiterin bei der Ticket-Vergabe „priorisiert“ werden, wird es sicher nicht mehr als eine Gehirnwäsche zum Thema Elektromobilität werden. Was per se nichts Schlechtes ist.

Bleibt also gern zu Haus und brütet neue Verschwörungstheorien aus. Umso größer sind dann unsere Chancen auf eine Eintrittskarte. Wobei ein Shuttle-Service vom mir bis dahin völlig unbekannten Bahnhof „Fangschleuse“ inbegriffen ist.

Das mit dem Fahrrad lasse ich besser. Nicht etwa, weil ich alt werde, völlig absurd. Aber die Verkehrsanbindung dort ist noch ähnlich unübersichtlich wie zur BER-Eröffnung im vergangenen Oktober. Und als angemeldeter „priorisierter“ Gast will ich doch nicht zu spät kommen.

Der Kluge reist im Zuge.